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Das Nibelungenlied, die Sigurd-Sage und der „Ring des Nibelungen“

Wandtafel Worms, 2023 (Höger)

Die nordische Mythologie mit der Sigurd-Sage und das Nibelungenlied rund um Siegfried sind eng verbunden, wenngleich das Erstere den Fokus auf Sigurds Drachentötung legt, und das Letztere die Ereignisse danach betrachtet. Das Nibelungenlied ist historisch eingebunden in die Ereignisse während der Völkerwanderungszeit um ca. 500 n. Chr. Es versucht, Geschehnisse, wie den plötzlichen Untergang des Hunnenreichs unter Attila (Etzel) und des Burgunderreichs bei Worms am Rhein unter Gundaharius (Gunther) zu erklären. Dass diese beiden Geschichten einen gleichen Kern haben, lässt sich an den Figuren des Siegfrieds/Sigurds, der Brynhild/Brünhild und des Lindwurms erkennen. Der König der Burgunden Gunther heißt nordisch Gunnar, ist Bruder von Högni (Hagen) und von Guttorm, der Sigurd in dieser Version tötet.
Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ orientiert sich zuweilen stärker an der nordischen Fassung und fasst diese zusammen (notgedrungen, um in der Oper den Überblick zu ermöglichen). So ist Walhall bei Wagner die Götterburg — statt nur eine Burg unter vielen in der Götterwelt Asgard. Gleich zu Anfang im „Rheingold“ werden drei nordische Geschichten miteinander vermischt: (1) Den Bau von Asgards Mauer durch einen Riesen, (2) den Raub von der Göttin der Jungend Idun durch einen Riesen und (3) die Geschichte von der Zahlung des Wehrgelds durch Loki an die Zwerge. In (1) will besagter Riese die Göttin der Schönheit Freia zur Braut, in (2) altern die Götter durch den Verlust der goldenen Äpfel Iduns an einen anderen Riesen und in (3) raubt Loki einen Schatz mit dem Ring (Andvarinaut) vom Zwerg Andvari, um die Geisel Odin für einen Mord freizukaufen. Wagner vermischt diese Mythen dazu, dass jetzt Freia die Jugendgöttin ist und von den Riesen Fafner und Fasolt für den Bau der Götterburg Walhall beansprucht und entführt wird, was die Götter altern lässt und zwingt, dem Zwerg Alberich einen Schatz als Ersatz zu rauben. Auch zur besseren Übersicht schafft Wagner Bruderpaare: Fafnir und Fasolt als Riesen und Alberich und Mime als Zwerge. In der nordischen Version sind Fafnir und Regin (=späterer Vormund Sigurds) Brüder und Zwerge, während der Zwerg Andvari alleinsteht. Wagner lässt die Nibelungen (Zwerge) in Nibelheim leben, eine eingedeutschte Version von Nivelheim — was der nordische Name des Nebellandes ist, in dem jedoch keine Zwerge wohnen. Die nordischen Zwerge leben in Svartalfheim oder Nidavellir. Der nordische Zwerg Andvari lebt an einem Wasserfall und vermag es, die Gestalt eines Fischs anzunehmen. Andvaris Ring heißt, nach ihm benannt, „Andvarinaut“. Andvari verflucht den Ring, als ihm Loki diesen abnimmt. Im Nibelungenlied ist Alberich der Anführer der Nibelungen. Wagner verdeutlicht die Beziehung von Alberich und Andvari, indem er ihre Eigenschaften stärker miteinander verwebt – Alberich als Ringhüter/Ringerschaffer, Herr der Nibelungen und derjenige, der den Ring verflucht.
Wagner weicht vom Nibelungenlied ab, wenn es um das Christentum geht, das dort in zentralen Handlungselementen aufgegriffen wird — z.B. der Streit Kriemhilds und Brünhilds im Wormser Münster, das es zur Völkerwanderungszeit noch nicht gab. Bei Wagner tritt die germanische Götterwelt an dessen Stelle. Wotan und die Götter werden als „Lichtalben“ beschrieben — die Welten Asgard, Vanaheim und Alfheim sind somit miteinander identifiziert.
Ein zentrales Element des Nibelungenlieds fehlt bei Wagner: Die Rachegeschichte Kriemhilds, der Witwe Sigfrids; ihre Ehe mit Etzel, dem Hunnenkönig, und die Ermordung der Burgunden an Etzels Hof. Tatsächlich tritt die Figur von Siegfrieds Ehefrau in der Oper ganz in den Hintergrund, wird geradezu passiv. Gunthers Schwester heißt in der Oper Gutrune (wie in der nordischen Version Gudrun), nicht Kriemhild, wie im Nibelungenlied. Griemhild ist bei Wagner die gemeinsame (nur erwähnte) Mutter von Hagen und Gunther — Gunthers Brüder Gernot und Giselher aus dem Nibelungenlied fehlen. Burgund wird nicht namentlich genannt — die Burgunden sind als “Gibichungen” nach dem Vater Gunthers benannt (nordisch Gjuki). Das Motiv des Zaubertranks, der Siegfried Brünnhilde vergessen lässt und ihn an Gutrune bindet, existiert in der nordischen Fassung. Dort mischt Griemhild den Zaubertrank zum Wohl ihrer Tochter Gudrun und verabreicht diesen Sigurd. In der Oper vollbringt diese Tat immerhin Gutrune, ansonsten fehlen ihre bedeutendsten Aspekte aus dem Nibelungenlied. Das mag daran liegen, dass sich die Handlung der Oper zum Ende hin zuspitzt und ihren Höhepunkt in der Ermordung Siegfrieds findet. Bis zu diesem Ereignis spielt Kriemhild im Nibelungenlied auch nur eine passive Rolle: Aktiv wird sie beim Streit mit Brünnhild und bei der Nennung der verletzbaren Stelle an Siegfrieds Rücken gegenüber Hagen, wodurch der Mord gelingt. Bei Wagner spielt das Baden im Blut des Drachens keine Rolle, Siegfried erhält keine Hornhaut, wodurch seine Ermordung durch Hagen gelingt, ohne dass es eine „verwundbare Stelle“ gäbe, die jemand preisgeben könnte.
Auch beginnt die Burgunden-Handlung im “Ring” erst im letzten Abschnitt, der “Götterdämmerung”, was es schwierig macht, allzu viele neue Figuren einzuführen. Dass Hagen (in der Oper) kurzerhand zum Sohn Alberichs erklärt wird, ist nötig, um zumindest einen Bezug dieser neuen Handlungsebene zur Gesamthandlung herzustellen.
Bezeichnend ist, dass Wagner den Ring als zentrales Handlungsmotiv der Geschichte einführt. Was im Nibelungenlied und der nordischen Version kaum eine Rolle gespielt hat, wird nun zum Aufhänger der gesamten Handlung: Die Zeugung Siegmunds durch Odin erfolgt, weil dieser den Ring will und einen Dieb braucht, da er selbst an Verträge gebunden ist; Mimes Interesse an Fafners Schatz beschränkt sich auf den Ring; Waltraute bittet Brünnhilde um die Zerstörung des Rings, dessen Existenz die Götter gefährde; Hagen ist Alberichs Sohn und tötet Siegfried für den Ring; Gunther stimmt der Ermordung zu für den Ring und wird im Streit um den Ring von Hagen getötet. So stirbt auch Hagen, beim Versuch, den Ring aus dem Rhein zu retten.

Hagendenkmal am Rheinufer: Hagen von Tronje versenkt den Nibelungenschatz im Rhein. Worms, 2023 (Höger)


Sogar der große Streit Kriemhilds mit Brünnhild wird bei Wagner uminterpretiert. Im Nibelungenlied ist dies der Auslöser für die zentrale Handlung: “Voll Jammers später sie starben durch zweier edler Frauen Streit” (7). Als Siegfried Brünnhild vergewaltigt, nimmt er ihr einen Ring ab und schenkt ihn Kriemhild. Diese nutzt das Beweisstück, um vor Brünnhild mit ihrem Gatten zu prahlen: “Ich bezeug es mit dem Golde, an meiner Hand zu sehn” (861). Infolgedessen plant Brünnhild Siegfrieds Ermordung durch Hagen von Tronje und die Handlung nimmt ihren Lauf. Wagner jedoch lässt Gutrune (Kriemhild) in den Hintergrund treten: Brünnhilde entdeckt bei der Ankunft am Rhein den Ring an Siegfrieds Finger und erkennt den Verrat, infolgedessen sie mit Hagen Rache plant. Durch die Veränderung der Handlung verbleibt der Ring bei Siegfried, was Hagens Motivation wird, ihn zu ermorden. Auch die berühmte Doppelhochzeit der Paare Siegfried-Kriemhild und Brünnhild-Gunther bleibt aus, da ihre Trauungen einzeln geschehen.
Diese Einführung des Rings durch Wagner als zentrales Handlungselement, bildet die entscheidende Schnittstelle zum „Herrn der Ringe“ und den Grundstein für Tolkiens Geschichte, die sich um den Besitzer des „Rings der Macht“ dreht.

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